Fragen an Lama Ole

„Was ist die ,,reine Sicht“ und wie erreicht man sie?“


Die Antwort von Lama Ole Nydahl:
Die reine Sicht ist eigentlich ganz einfach. Die reine Sicht ist, zu verstehen, dass es an sich phantastisch ist, dass überhaupt Dinge geschehen können. Wir haben meistens ein unterscheidendes Bewusstsein. Wir denken ,,klug’’ oder ,,dumm’’ und ,,mag ich’’, ,,mag ich nicht’’ usw. Reine Sicht bedeutet, dass man den Spiegel selbst nicht vergisst, dass man nicht vergisst, dass das, was durch die Augen schaut und die Ohren hört und die Dinge wahrnimmt und alles erlebt, dass das, was bewusst ist, an sich Furchtlosigkeit, Freude und Liebe ist. Also, dass der Erleber selbst immer dabei bleibt, bei dem, was erlebt wird.

Man schaut also mehr auf das, was zwischen den Gedanken ist, hinter den Gedanken ist, was die Gedanken und Gefühle wahrnimmt, diese Raum-Klarheit-Unbegrenztheit, die in allem mit dabei ist. Man nimmt etwas wahr, z.B: ,,unangenehm, das tut weh’’, aber eigentlich ist es spannend, dass einer da ist, der das erfahren kann. Das ist an sich ein sehr spannendes Gefühl, Schmerz, und wie man sich dann verhält oder wie andere sich dann verhalten.

Wichtig ist, dass man nicht an den Bildern im Spiegel festhängt, sondern sich immer des Spiegels bewusst ist. Dass immer derjenige, der erfährt und erlebt bei den Aufs und Abs des Geistes mit dabei ist. Wenn du diese Sicht hältst, dann ist alles, was passiert das freie Spiel des Geistes, Überschuss des Geistes, Kraft des Geistes, Fähigkeit des Geistes, Licht des Geistes, wie man will.

Aus der Reinen Sicht gesehen spiegeln Gedanken den Wahrheitszustand des Geistes wider. Dass sie überhaupt geschehen können, ist, weil etwas da ist, was diese Dinge erlebt. Wenn man Gedanken so erlebt, gibt es kein Festhalten an guten Erfahrungen und Wegschieben von schlechten Erfahrungen. Alles was passiert, wird als spannend, als interessant, als Möglichkeit zu lernen angesehen, ohne davon gefangen zu sein. Alles was geschieht, zeigt, was möglich ist. Ich kann dir sagen: Auch wenn ein Mafioso hier reinkäme und eine Handvoll Handgranaten schmeißen würde, sogar das Blut und die Teile von uns, die sich hier auf den Wänden und überall verteilen würden, sogar die würden die Wahrheitsnatur ausdrücken.

Das  wäre genau der richtige Ausdruck von der Ladung in Verbindung mit dem Körper unter den Umständen usw., alles ist Wahrheit! Gut – wenn man an die Sache gebunden ist und denkt: Ich bin mein Körper und ich will lange leben – klar dann ist das leidvoll. Die Ebene kennt ja jeder. Ich rede davon, es überpersönlich zu sehen und nicht mehr zu denken, dass man der Körper sei. Man ist das klare Licht, das die Dinge wahrnimmt. Ich rede also von einer hohen Ebene. Und von der Ebene aus ist alles phantastisch, bloß weil es geschieht, ob geboren oder gestorben wird, und da ist keine Moral für dies oder das. Auf der Ebene nicht! Wenn zwei Gauner versuchen, einer alten Dame ihre Brieftasche wegzunehmen, würde ich sie schon stoppen.

Klar würde ich das tun. Aber ich würde nicht moralisch dabei sein, denn es könnte ka sein, dass sie ihnen vielleicht im vielleicht letzten Leben auch etwas geklaut hat  und dadurch ist diese Verbindung entstanden. Man soll also schon helfen, aber ohne den ganzen moralischen Druck, ohne zu beurteilen, ohne moralisierend zu sein. Die Leute sind eher dumm als böse. Sie suchen Glück und versuchen Leid zu vermeiden. Sie stecken nur immer die Hände in die Nesseln statt in die Blumen.
Dann bedeutet reine Sicht auch, dass du weißt, dass höchste Wahrheit höchst Freude bedeutet. Du weißt, dies ist ein reines Land, alle sind Buddhas, die es nur noch nicht wissen und je höher und reiner Du die Sachen sehen kannst, desto näher bist Du der Wahrheit.

Gut, Dein normales Erleben ist vielleicht: ,,der Mann kommt an, sein Gesicht sieht aus, als wäre er  von einem Güterzug überfahren worden. Aber seine Hände sind schön, und Du siehst die Hände. Oder Hände und Gesicht sind nicht gut, aber die Schuhe sind gut, oder die Automarke. Du versuchst alle Wesen und alles, was geschieht, als neu und frisch und spannend zu sehen, das Schönstmögliche, Reinstmögliche darin zu erfahren. Wenn Du das schaffst in jedem Wesen, in jedem Gesicht, was es auch ist, in allem was geschieht irgendwie etwas Neues und Schönes zu sehen, dann kommst Du allmählich dahin, in jedem Erlebnis eine "Aha!"-Erfahrung zu haben und das heißt, Du siehst den Spiegel jenseits der guten Bilder, siehst den Erleber jenseits der schönen Erlebnisse.
Wenn Du dagegen viele unschöne Erlebnisse hast, dann bleibst Du immer auf der Oberfläche und versuchst abzudecken und zu verteidigen und der Erfahrung zu entfliehen. Aus einem schlechten Traum kommst Du nicht dahin, den Erleber zu erkennen, aber wenn Du wählst, immer wieder das Schönste, Beste, Sinnvollste bei den Leuten zu sehen, erkennst Du die Ebene des Erleber selbst. Es geht also darum, aus dem guten Traum aufzuwachen.

Es ist viel leichter, aus einem guten Traum aufzuwachen, als aus einem schlechten Traum. Deshalb arbeiten wir damit, den schönstmöglichen Traum aufzubauen, die Wesen, die Dinge immer auf der höchstmöglichen Ebene zu sehen, weil man sich aus dieser Ebene erfahrungsgemäß leicht öffnen kann und dann weitergehen kann in wirkliche Reinheit, in wirklichen Sinn, in wirkliche Bedeutung. Während, wenn man in irgendeinem miesen Traum festhängt, da ist kein Auftrieb, da ist nichts. Alles klebt und ist so halb nass, halb kalt, – wenig Spaß. Wenn man sich selbst und alle Wesen als mögliche Buddhas erlebt, den ganzen Raum als ein reines Land, alles als an sich funkelnd und strahlend und sinnvoll, dann ist der Rest ein Geschenk.

Dein Geist ist ein Gewohnheitstier. Er baut Gewohnheiten auf und macht sie immer stärker.
Deshalb passt Du auf mit Situationen, wo Du weißt, da falle ich immer ins Wasser, da kriege ich immer Probleme, da sehe ich die Sachen immer schief. Du sorgst dafür, das zu tun, was gutes Denken, Reden und Handeln leicht und natürlich macht und Dich dem fernzuhalten, was schlechte Gesellschaft wäre, was schlechte Möglichkeiten in Dir entwickeln würde. Und so arbeitest Du weiter mit Sicht und Praxis zusammen bis Du eines Tages da sitzt und alles ist schön und alles ist spannend. Etwas Sicht und viel Arbeit.

Wichtig auf diesem Pfad ist, dass man versteht, dass es eine allgemeine Wahrheitsebene nicht gibt – ‚darunter die schwarzgrauen Depressionen und darüber die rosigen Träume – dieses Bild von Wirklichkeit stimmt nicht. Wenn wir nach etwas suchen, was wahr und wirklich ist, gibt es nur einen Punkt und das ist, wo alles zusammen kommt: Höchste Freude, Liebe, Kraft, Mut, Sinn, Zuversicht, Überschuss, Weisheit, Mitgefühl usw.. Wo das alles zusammen kommt, da ist die höchste Funktionsebene, die höchste Wahrheit. Das ist wichtig zu wissen, dass da, wo der höchste Wirk- und Entfaltungsgrad alles Möglichen, die höchste Freude ist, dass da auch höchste Wahrheit ist.